Titelbild des Buchs Paul Verhaeghe
Und Ich?
Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft

Kapitel Die machtlose Machbarkeit

Wir leben in einer Welt, in der die Eltern immer weniger Einfluss auf die Kinder haben, weil die sozialen Bindungen abnehmen. Kinder haben häufig schon im sehr jungen Alter verschiedene Betreuungspersonen haben, und der Einfluss der neuen Medien schon extrem früh die Kinder prägen. Kleinkinder übernehmen im allgemeinen die Werte Ihrer Eltern. Im Alter von 3 Jahren beginnt die Trotzphase, in der Kinder die Grenzen ausloten, die ihre Eltern setzen. Dies wiederholt sich extrem in der Pubertät. Ab etwa dem 5. Lebensjahr hat das Kind die Werte der Eltern so weit verinnerlicht, dass die Eltern anfangen können die Kontrolle zu verringern und den Kindern mehr und mehr Vertrauen unentgegensetzen können. Verhaeghe empfiehlt Belohnung und Bestrafung durch liebevolle Aufmerksamkeit bzw. Aufmerksamkeitsentzug durchuführen. Materielle Belohnung oder Schläge sind schädlich.

Verhaeghe teilt die jungen Leute in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe sind nicht bereit Anstrengungen zu übernehmen. Ursache dafür ist das Narrativ, das man alles kaufen kann und sofort konsumieren sollte. Die zweite Gruppe sind die rücksichtslosen Karrieremenschen. Zur letzten Gruppe sieht der Autor die Schnullerkinder, die auch als Erwachsene erwarten, dass andere Ihre Probleme lösen.

Der Autor kritisiert die Schule, die statt Kinder zu erziehen, nur Menschen auswerfen will, die im Sinne der Firmen produktiv sind. Auch stellt der Autor fest, dass gerade die Menschen belohnt werden, die vom Charakter dem entsprechen was die Lehrbücher als Psychopathen kennzeichnen.

Frans de Waal hat überzeugend nachgewiesen, dass Primaten, zu denen auch wir zählen, Empathie besitzen und auf Zusammenarbeit und Solidarität ausgerichtet sind, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Umgebung dieses Verhalten fördert. In einer andersgearteten Umgebung können wir uns als äußerst grausame und egoistisch handelnde Wesen entpuppen.

Es gibt dennoch einen wichtigen Unterschied zwischen Primaten und Mensch. Menschen können die Wirtschafts- und Gesellschaftsform in der sie leben gestalten. Natürlich geht das nur gemeinschaftlich, und nicht individuell

Paul Verhaeghe betont wie wichtig sichere soziale Bindungen für die Identitätsentwicklung von Kindern ist. Die Identität hängt von der sozialen Gruppe ab, in der jemand aufwächst, vor allem von dem dort vertretenen Anschauungen, von der dort anzutreffenden Erzählung. Kinder spiegeln die Werte dieser Gruppe auf sich selber und nehmen anfangs diese als eigene Identität an.

Durch den Einfluss moderner Kommunikationsmedien wird aber der Einfluss der Eltern immer geringer, und der Einfluss der Aussenwelt immer stärker.

Ich vermute, dass die neuen Kommunikationsformen nur ein Faktor von mehreren sind. Der Trend der Grossfamilie zur Kleistfamilie ist schon länger. Dies liegt daran dass der Mobilitätszwang zugenommen hat, heutzutage beide Elternteile arbeiten, bzw. die Kinder von den Eltern wegziehen bzw. um sich auszubilden oder Arbeit zu finden. Natürlich gehen dadurch soziale Bindungen und Identität verloren.

Quelle der Spiegelungen sind immer weniger die Eltern sondern mehr und mehr die Flachbildschirme, denen wir uns nicht mehr entrinnen können und die auch mehr und mehr die öffentliche Räume verpesten.

Das Problem ist die Botschaft, die von diesen Flachbildschirmen kommt. Die explizite Botschaft lautet dass jeder perfekt sein kann und jeder alles haben kann. Die implzite Botschaft lautet. Wenn Du Dein bestes gibt. Wir werden dabei mit Werbung überhäuft deren Credo lautet. Geniesse jetzt, und zwar so viel wie möglich.

Schon immer wurde den jungen Leuten vorgeworfen, sie wollen sich nur vergnügen, nicht arbeiten, wollen immer alles sofort, nehmen Drogen haben zu früh Sex und so weiter. Kurzum den jungen Leuten werden all die Dinge unterstellt, von denen die Erwachsene nur zu träumen wagen.

Bei den Vorwürfen die Erwachsene der Jugend gegenüber stellt, erkennt der Autor eine andere tiefer liegende Botschaft. Ich werde alt, Ich komme nicht mehr mit, Ich erkenne mich in den Jüngeren nicht mehr wieder. Sie sind anders.

Der technologische und gesellschaftliche Wandel wird immer schneller und stärker. Das Klagen über die Jugend mag schon jahrtausend Jahre alt sein, allerdings war vor der Industrialisierung der Wandel deutlich geringer. Die Welt meiner Eltern und besonders die meiner Grosseltern ist nun einmal eine ganz andere Welt als die meiner Nichte. Ich persönlich halte die kulturellen Unterschiede zwischen den Generationen für grösser, als die Unterschiede zwischen entfernten Kulturkreisen.

Unterkapitel Moralische Entwicklung

In einer liebevollen Umgebung übernehmen Kinder i.a. die Werte der Gruppe in der diese aufwachsen. Das Abgucken der Werte geschieht permanent, fordert ständige Wiederholung, und ist für junge Eltern sehr anstrengend, wie alle jungen Eltern schnell lernen. Zunächst existieren Autorität und Gewissen außerhalb des Kindes in Gestalt der Eltern, die dadurch die Position einer Kontrollinstanz einnehmen müssen.

Alle Dreijährigen fordern diese Autorität heraus und testen die Dehnbareit der Grenzen; zehn Jahre später erfährt die ganze Prozedur während der Pubertät eine hormonlastige Wiederholung.

Wenn das Kind eine sichere und liebevolle Umgebung hat, beginnt es im Alter von etwa fünf Jahren, die ursprünglich externe Regelsetzung zu übernehmen und zu verinnerlichen, sodass sie allmählich Teil seiner Identität wird.

Wachsendes Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit von jungen Leuten führt dazu, dass ihre Unabhängigkeit zunimmt und immer weniger externe Kontrolle vonnöten ist.

Erziehung geht dabei nahtlos in Bildung über, und je reicher eine Kultur, desto breiter die Palette an Identifikationsmöglichkeiten.

Die Trennung zwischen Bildung und Erziehung ist schwierig und geht ineinander über. Schule ist mehr als reine Wissensvermittlung. Natürlich lernen die Schüler den Umgang mit Gleichaltrigen, aber auch den respektvollen Umgang mit Schwächeren und Stärkeren. Bei Vermitttlung von Wissen in Naturwissenschaften und Sprachen geht es weniger um Moral. In Bayern ist eine Grundschullehrerin bestraft worden, weil es ihr gelang die Leistungen aller Schüler zu verbessern, und deshalb fast nur gute Noten vergab. Das zeigt schon in der Grundschule haben die Lehrer die Aufgabe eine gewisse Quote von Schülern auszusortieren, damit nicht alle ins Gymnasium gehen.

Der Autor fordert liebevolle Aufmerksamkeit als Belohnung und Entzug dieser Aufmerksamkeit als wirksamste Strafe. Materielle Belohnungen (Wenn du brav ins Bett gehst, bekommst du noch was Süßes) und körperliche Strafen müssen Ausnahmen bleiben, sonst sind sie Zeichen für Versagen und Machtlosigkeit.

Offenbar klappt es mit dem Erwachsen werden gegenwärtig nicht mehr reibungslos. Eine aussagekräftige Studie belegt, dass drei von vier erwachsenen Niederländern die heutigen Kinder für zu brutal, zu asozial, zu hinterhältig und zu ungehorsam halten.

Der Einfluss von Eltern und Familie ist auf einen Bruchteil des früher üblichen geschrumpft – trotzdem zeigt man erst einmal mit dem Finger auf die Eltern, wenn mit den Kindern etwas schiefläuft.

Die meisten Kleinkinder wechseln mindestens einmal am Tag ihre Umgebung und ihre Betreuungspersonen, manche sogar mehrfach.

Die Kinder werden in drei Gruppen eingeteilt.

Unterkapitel Die Schnullerkinder

Als Baby kennen, können und wissen wir noch nichts. Unsere Reaktionen sind Reflexe, und unser Überlebensmerkmal besteht darin, zu weinen, sobald uns etwas quält: Hunger, Durst, Kälte, eine nasse Windel. Und – o Wunder! – innerhalb kürzester Zeit steht jemand neben unserer Wiege, um uns zu helfen und auch noch zu trösten. Anfangs ist der Schnuller dabei ein wichtiges Hilfsmittel, daher die Wortwahl. Diese Interaktion wird während der ersten Lebensjahre buchstäblich viele tausend Mal wiederholt: Haben wir ein Problem, dann werden die anderen es schon für uns lösen.

Der Autor nennt Jugendliche und Erwachsene, die sich wie Kleinkinder verahlten Schnullerkinder. Jede Erziehung gelangt an einen entscheidenden Wendepunkt, an dem das Kind lernen muss, mit dem fertig zu werden, was der Autor Mangel nennt.

Zum Leben gehört nun mal auch Schmerz, Krankheit und Tod. Es gibt Probleme, die sind nicht lösbar und kein Mensch kann immer alles unter Kontrolle haben. Enttäuschungen gehören nun mal zum Erwachsen werden.

Unsere Medien, die in erster Linie werbefinanziert sind, sagen uns aber fortwährend eine andere Botschaft. welche Auswirkungen hat eine Gesellschaft auf ihre Mitglieder, deren oberster Wahlspruch lautet, dass man alles bekommen kann.

Uns wird vermittelt, dass Schmerz ein außergewöhnlicher und vermeidbarer Bestandteil des Lebens ist und Genuss der Normalzustand. Dass alles kontrollierbar und vorhersehbar ist und dass, falls ausnahmsweise doch einmal etwas schiefgeht, immer jemand daran schuld sein muss. Eine Gesellschaft, in der das Aussprechen eines Verbots fast als Kindesmisshandlung angesehen wird, da Kinder als fertige Wesen ein Recht auf ungefähr alles haben, was man kaufen kann.

Andauernd werden wir berieselt, dass es für jedes Problem ein Produkt oder eine Medizin gibt.

Mit meinen Schlaganfall und nach meiner Gehirnoperation war Ich in einem Zustand ohne jede Planbarkeit. Als mir ein Rollstuhl zugewiesen wurde, konnte Ich nicht wissen dass Ich diesen sehr schnell wieder verlassen werde. Anfangs konnte Ich selblst kleinste Texte nicht lesen, weil Ich nicht gelernt hatte, den Anfang der nächsten Zeile zu finden. Eine für mich wichtige Erfahrung.

Die Aufgabe eines Softwareentwicklers ist nun einmal die Automatisierung. Ein Softwareentwickler der zweimal dasselbe macht, macht etwas falsch. Softwareentwicklung und langfristige Planbarkeit widerspricht sich daher, denn planen kann man nur bei wiederholbaren Tätigkeiten. Erschwert wird die Planung weil die Anforderungen mit dem ersten Einsatz fast immer ändern und auch weil es häufig für scheinbar komplexe Probleme schon fertige Lösungen gibt, und Probleme die scheinbar einfach sind sich als unlösbar erweisen können. Ähnliches gilt gleichzeitig eine hohe Innovation und Planbarkeit nachzuvervolgen.

Uns wurde schon lange abgenommen zu kontrollieren ob ein Auto abgeschlossen ist. Wir müssen nur auf einen Knopf drücken. Bei Luxusautos wird sogar das Drücken eines Knopfes uns abgenommen. Das Auto erkennt von alleine ob wir in der Nähe sind. Allerdings ist dieser Komfort mit erheblichen Sicherheitsproblemen erkauft worden. Als Kunde sollen wir jede Bequemlichkeit nutzen, als Arbeiter allerdings pro aktiv sein und mitdenken. Wir sind aber gleichzeitig Kunde und Arbeiter. Wir können unsere Werte nicht auf Knopfdruck ändern

Die These des Autors ist: Solche Schnullerkinder sind nicht das Produkt eines Sozialstaats. Sie sind der Abfall einer Konsumgesellschaft, die im Eiltempo dabei ist, den Sozialstaat zu strangulieren.

Unterkapitel: Make it or Break it

Es geht um die Gruppe von jungen Leuten hat in erster Linie den eigenen Erfolg im Blick hat. Sich für andere einzusetzen und selbst zurückzustecken zählt nicht zu ihren mittlerweile gern zitierten Kernkompetenzen.

Viele beklagen den Egoismus dieser Leute. Paul Verhaeghe sieht unser Wirtschaftssystem als Ursache dafür. Auch diese ichzentrierte Moral ist das Ergebnis des vorherrschenden Idealbildes, das der Gesellschaft schon seit dreißig Jahren vorgehalten wird und das inzwischen auch den häuslichen Bereich und das Klassenzimmer erobert hat. Paul Verhaeghe empfindet die Entwicklung in den Schulen für extrem bedenklich.

Eine Lehre des 20. Jahrhunderts ist, dass jede Diktatur das Bildungswesen dazu benutzt, Kindern Ideen aufzuzwingen, die für einen Haufen Elend sorgen und ihre Entfaltung zu kritischen, selbstständig denkenden Menschen stark beschneiden.

Die ursprünglichen Ziele waren nobel: Lasst uns von den Fertigkeiten ausgehen, die im Berufsleben wichtig sind, und überlegen wir, wie diese Fertigkeiten in der Schule optimal entwickelt werden können, damit junge Menschen rasch in die Lage versetzt werden, ihren eigenen Weg zu gehen, befreit von jedem moralischen, religiösen und ideologischen Ballast.

Ausgangspunkt des kompetenzorientierten Unterrichts sind die Fertigkeiten, die im Berufsleben gebraucht werden. Sehr bald tritt jedoch eine bedeutsame Begriffserweiterung ein, und zwar eine Verschiebung von den praktischen Fähigkeiten (beispielsweise Sprachkenntnisse und Kommunikation) hin zu Persönlichkeitsmerkmalen (Flexibilität) und schließlich zur Persönlichkeit als solcher (der Mensch als Manager seines Lebens). Dabei geht man von einer hoffnungsvollen Idee aus: In einer interessanten und realitätsnahen Umgebung lernen Kinder von ganz allein.

Man beachte, dass die Verantwortung für den Lernprozess dadurch auf den Schüler übergeht.

Vor der Neoliberalisierung waren Normen und Werte Bestandteile der Bildungsinhalte. Im heutigen Kompetenzmodell wird das Individuum als freier Unternehmer angesehen, der seine Fertigkeiten mit Hilfe Anderer ausbaut.

Heute heißt das wichtigste Bildungsziel Selbstmanagement und Unternehmertum: Junge Leute sollen sich als Miniunternehmen sehen, wobei Wissen und Fähigkeiten in erster und letzter Instanz von ökonomischer Bedeutung sind, denn mit ihnen kann man seinen Marktwert erhöhen.

Die Vorstellung, Kinder würden sich spontan die richtigen Normen und Werte zu eigen machen, ist irrig – ein Kind übernimmt die Ethik seiner Umgebung. Die Vorstellung, es könne eine wertfreie Schule geben, ist eine Illusion. Jede Form von Unterricht vermittelt Werte, dessen sollten wir uns lieber bewusst sein. Und schließlich kann die Idee, Autorität sei überflüssig, nur aus dem Munde eines Menschen kommen, der noch nie vor einer Klasse gestanden hat.

Alle Kinder müssen heute optimal ausgebildet werden, sonst schaffen sie es nicht. Das neueste Schlagwort heißt Top: Top-Schulen, Top-Lehrer, Top-Sportarten, Top-Unis, Top-Forschung. Die unvermeidliche Kehrseite dieser Medaille ist eine wachsende Zahl von Menschen, die sich für gescheitert halten, in der Regel schon ab dem zehnten Lebensjahr – und darauf ihre künftige Identität aufbauen.

Das Bildungsniveau ist überall bedenklich gesunken, das weiß jeder, der länger als zwanzig Jahre unterrichtet. Der Autor stellt auch fest, dass es in den meisten Berufen eine Vereinfachung eintritt, weil Automatisierung und K.I. vieles einfacher macht.

Innerhalb einer neoliberalen Gesellschaft ist es nicht die vorrangigste Aufgabe des Bildungswesens, für hoch qualifizierte Absolventen zu sorgen, sondern vielmehr junge Menschen auszuwählen und auf ein bestimmtes Profil hin zu trimmen, das innerhalb des Systems die höchste Produktivität garantiert.

Unterkapitel: Und Viel Erfolg mit dem neuen Vertrag!

Paul Verhaeghe stellt fest dass heutzutage sich die jungen Menschen Erfolg streben, und in immer weniger nach dem guten Leben fragen. Das gute Leben betont die Gemeinschaft, Erfolg ist meist individuell.

Der schottische Moralphilosoph Alasdair MacIntyre sieht eine Verschiebung von einer Gemeinschaftsethik hin zu einer Weltordnung, in der das Individuum als Norm gilt. Wir sind zwar befreit von den Priestern, dafür haben wir ein neues Gebot der Stunde. Und dieses Gebot ist messbare Effizienz. Für MacIntyre ist systematische Effizienz nichts anderes als eine moralische Fiktion, ein Märchen.

Einerseits bleibt es absolut unklar, ob neoliberales Management tatsächlich zielführend ist, da es verschiedene ökonomische Beweise für das Gegenteil gibt.

Andererseits verschleiert der Begriff Effizienz die eigentliche Norm: mehr kurzfristiger Gewinn. Der moralische Aspekt bleibt womöglich noch stärker verborgen, in diesem Fall hinter Zahlen und Statistiken, die jeweils angeblich objektive Beweise liefern und deshalb keiner Diskussion bedürfen, geschweige denn einer moralischen Erörterung.

Es ist bitter zu sehen, dass psychische Störungen heute fast systematisch als genau bezifferbare wirtschaftliche Verlustposten dargestellt werden. Das drastischste Beispiel war ein kleiner Artikel in der Zeitung vom 21. Januar 2012: Selbstmorde kosten Flandern 600 Millionen Euro im Jahr, »was eine ernste Bedrohung unserer Wirtschaft darstellt«. Wie können sie es wagen, diese Unmenschen! Dass die Dinge oft genug andersherum liegen – dass unsere Wirtschaft eine ernste Bedrohung für unsere Gesundheit darstellt –, erkennt nahezu niemand.

Erwachsene werden wie Kleinkinder durch materielle Belohnungen (die Süßigkeiten aus der Kinderzeit), die incentives, ermuntert, doch bitte schön den Regeln zu folgen. Und wie bei Kindern hat dieser Ansatz mehr negative als positive Effekte (»Take the money and run« – Nimm das Geld und hau ab!).

Wie krank ist eine Gesellschaft, die die Erziehung ihrer künftigen Bürger vertraglich regeln muss?

Unterkapitel Survivalweekends als Teambuilding Massnahme

Verantwortung ohne Macht ist eine Formel, die garantiert ins Fiasko führt, und genau das ist eingetreten.

Unterkapitel Neue Persönlichkeitsmerkmale

Bei näherer Überlegung wird deutlich, dass ein meritokratischer Neoliberalismus sehr schnell bestimmte Persönlichkeitsmerkmale belohnt und andere bestraft, um das System aufrechtzuerhalten.

Man muss gut reden können, um möglichst viele Menschen für sich einzunehmen. Ein solcher Kontakt bleibt zwar oberflächlich, doch da dies gegenwärtig für die meisten menschlichen Kontakte gilt, fällt das nicht weiter auf. Bei dieser Art von lockerer Konversation sollten Sie die eigenen Fähigkeiten unbedingt ins rechte Licht rücken – Sie kennen jede Menge Leute, hatten bereits verschiedene Funktionen inne und haben gerade ein großes Projekt abgeschlossen. Hinterher erweisen sich solche Behauptungen zwar oft als heiße Luft, aber dass das erst hinterher geschieht, hat wiederum mit einem anderen Merkmal zu tun: Sie können überzeugend lügen, und Schuldgefühle sind Ihnen fremd. Deshalb sind Sie auch nie verantwortlich für Ihr Verhalten. Wenn etwas schiefgeht, sind immer die anderen schuld – wobei es Ihnen meist auch noch gelingt, die anderen von der Richtigkeit dieser Behauptung zu überzeugen, denn Manipulieren haben Sie zu einer Kunstform erhoben. Gefühle sind eh nicht Ihre Stärke, Gleichgültigkeit schon eher, und Emotionen zu heucheln gehört zum Standardrepertoire erfolgreicher Manipulation. Außerdem ist man natürlich sehr flexibel und impulsiv, stets auf der Jagd nach neuen Reizen und Herausforderungen. In der Praxis führt das zu ausgesprochen risikoreichem Verhalten, aber die Scherben können ja die anderen zusammenkehren.

Die obige Beschreibung ist aus einem Handbuch für Psychopathie

Unterkapitel Machtlose Machbarkeit

Die neoliberale Meritokratie gaukelt uns vor, dass Erfolg von den eigenen Anstrengungen und Talenten abhängt, was natürlich auch bedeuten würde, dass jeder für alles selbst die Verantwortung trägt und die Regierung deshalb jedem so viel Freiheit wie möglich einräumen muss, um diesen Erfolg zu erreichen.

Nie waren wir so frei, und nie haben wir uns so machtlos gefühlt.

Im Vergleich zu früher sind wir frei in dem Sinn, dass wir die Religion verunglimpfen dürfen (aber Vorsicht bei Islam und Judentum!) und in sexueller Hinsicht so ziemlich alles ausprobieren können, was früher verboten war; außerdem ist es völlig egal, welcher politischen Richtung wir anhängen. Wir dürfen das alles, weil es keine Rolle mehr spielt – diese Art von Freiheit beruht darauf, dass nichts mehr ernsthaft von Bedeutung ist.

Die Freiheit, sich für eine andere, nämlich jenseits der Erfolgsgeschichte angesiedelte Form der Selbstverwirklichung zu entscheiden, ist äußerst begrenzt. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Frauen oder Männer mit Hochschulabschluss, die ihrer Elternrolle Vorrang geben, werden bedauert. Führungskräfte, die eine weitere Beförderung ablehnen, um mehr Zeit zu haben für andere Dinge, gelten als Idioten – es sei denn, es handelt sich um erfolgsträchtige andere Dinge. Mädchen, die Lehrerin werden wollen, brauchen nach Ansicht ihrer Eltern erst mal einen Master in Wirtschaft – Lehrerin, was für eine Schnapsidee!

Zusammen mit Gott haben wir offenbar auch die Ethik abgeschafft. Das allerdings stimmt nicht, da Normen und Werte Bestandteil unserer Identität sind. Wir können Werte also gar nicht verlieren, sie können sich höchstens verändern.

Die neue Norm heißt Effizienz, das Ziel ist materieller Gewinn, und die dazugehörige Tugend heißt Habgier.

Jedoch ist der Autor zutiefst von der evolutionären Grundlage unseres Verhaltens überzeugt. In unserem Erbgut verbergen sich zwei fundamental gegensätzliche Verhaltensmuster; das eine ist sehr egoistisch und damit auf Teilen und Herrschen gerichtet, während das andere sehr altruistisch auf Geben und Nehmen setzt. Die Studie von Frans de Waal, die im vierten Kapitel zur Sprache kam, belegt, dass die Umgebung bestimmt, welches der beiden Muster die Oberhand gewinnt. Gegenwärtig ist es das egoistische.