Titelbild des Buchs Paul Verhaeghe
Und Ich?
Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft

Kapitel Männer der Wissenschaft

In diesem Kapitel posutliert der Autor dass der Einfluss der Religion duch das der (Natur) wissenschaft ersetzt worden ist. Allerdings wurde dadurch nichts gewonnen. Es wurde eine Religion einfach durch eine andere ersetzt. Insbesondere wird kiritisiert dass die Methodik der Naturwissenschaften auch auf die Geisteswissenschaften übertragen wurden. Durch die Haltung dass alles messbar ist, und dass Erfolg durch finanziellen Erfolg gemessen wird, ersetzen wir einfach das Jüngste Gericht im Jenseits durch das Beurteilungsgespräch des Vorgesetzten. Am Ende bestimmt die Finanzindustrie, wer erfolgreich ist. Die Erkenntnis dass der Mensch und Gesellschaften sich ändern können, wird zum Zwang sich zu verändern - und zwar im Sinne des finanziellen Erfolges. Wir haben weiterhin ein System das Schwäche nicht zulässt. Das Individuum muss immer leistungsfähig und jung bleiben.

Trotz der Trennung von Kirche und Staat war die Gesellschaft durch und durch religiös. Erst ab den 60.er bzw. 70er Jahren zeigten die Erkenntnisse der Wissenschaft langsam Wirkung.

Den eigentlichen Todesstoss der christlichen Grundideen war dass das Narrativ der Unveränderbarkeit der Welt nicht mehr haltbar wurde. Paul Verhaeghe listet drei Quellen auf, das diesem Narrativ Unveränderbarkeit entgegenwirkte.

  1. Das war einerseits die Erforschung des Weltalls u.a. durch Newton und Kepler. Dies ist den meisten Lesern bekannt.
  2. Deutlich unbekannter ist der Einfluss der Geologen. Fossilien stellen die Idee einer unveränderlichen Natur in Frage u.a. die Erkenntnis dass heute Berge stehen, wo früher Meer war.
  3. Ausgerechnet ein Mann der Kirche, der Mönch Mendel hat die Vererbungsgesetze

Evolution bedeudet Veränderung. Dies ist sicherlich der weichtigste Wendepunkt in der westlichen Geistesgeschichte: Die Vorstellung dass sich Lebewesen, also der Mensch verändern können.

Evolution bedeudet also, dass es keine festgelegte Identität gibt, wie sieht es aber mit Normen und Werten aus? Und noch wichtiger: Wie verhält es sich mit der natürlichen Ordnung? Heißt das, dass die Menschen ihren vorbestimmten Rang in der sozialen Hierarchie auch verlassen können? Ist der Mensch machbar, ist die Gesellschaft formbar?

Unterkapitel: Utopia Die formbare Gesellschaft

Es sind Utopien und Dystopien entstanden. Den optimistischen Utopien liegt eine wichtige, doppelte Interpretation der Idee von Veränderlichkeit zugrunde. Veränderung bedeudet Fortschritt und der ist machbar. Allerdings bis weit in die Renaissance hinein war man vom Gegenteil überzeugt. Man war von der Unveränderlichkeit der Dinge überzeugt. Unsere heutige Sichtweise hat sich demgegenüber aber radikal geändert. Wir sagen dass Stillstand Rückschritt bedeudet und setzen Evolution mit Fortschritt gleich, d.h. der Verbesserung unserer Lensqualität im Vergleich zu unseren Vorfahren.

Unterkapitel: Fortschritt

Paul Verhaeghe posutliert dass der Fortschritt nur einem kleinen Teil der Weltbevölkerung zu Gute kommt, und zwar auf Kosten des großen Rests, und die ökologischen Zerstörungen unübersehbar sind.

In diesem Punkt möchte Ich dem Autor widersprechen. Es gab durchaus Erfolge in der Bekämpfung der Armut - auch in den sehr armen Ländern. Richtig ist aber die Erkennntnis dass dies unter Überbelastung unseres Planeten erfolgte. Und die Folgen der Überlastung werden wahrscheinlich die Ärmsten am heftigsten spüren.

Ein weiteres Argument für die Gleichsetzung von Evolution und Fortschritt wird ebenfalls gern im Namen Darwins vorgebracht.

Charles Darwin wird bewusst missinterpretiert. Die wichtigste Lehre der Evolutionsgeschichte betrifft die Zufälligkeit der eingeschlagenen Richtung - sie lässt sich nicht vorhersagen und ist immer zeitlich begrenzt. Dies als Fortschritt zu betrachten ist hingegen das moralische Urteil eines Wesens, das sich selbst allzu gerne im Spiegel betrachtet. Charles Darwin postulierte dass die Lebewesen überleben, denen es am besten gelingt, sich der Umwelt anzupassen. Mit the "fittest will survive" meinte Darwin die Anpussungsfähigkeit und nicht wie stark er ist.

Ich schockiere gerne meine Mitmenschen, wenn Ich postuliere dass es ein angenehmer Gedanke ist, nach meinen Tod die Nahrung von höherentwickelten Lebenswesen zu sein. Ohne Frage werden Würmer einen Atomkrieg oder eine extreme Klimaerwärmung leichter überleben als die Menschheit.

Unterkapitel: Machbarkeit

Die Interpretation der evolutionären Veränderung als Fortschritt, oder höhere und niedere Stufen impliziert, ist eine christliche Lesart. Dies wird noch deutlicher, wenn wir erkennen dass der Fortschrittsgedanke individuelle Anstrengungen vorraussetzt: Je mehr sich jemand bemüht, desto schneller wird es ihm gelingen, sich weiterzuentwickeln.

Damit wird der Evolutionsgedanke um einen wichtigen Aspekt ergänzt. Wir können die Veränderungen steuern - und zwar vorzugsweise gleich in die richtige Richtung. Dies ist Sinn und Zweck des Sozialdarwinismus, einer Ideologie, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Aus Sicht des Sozialdarwinismus ist die Gesellschaft ein lebender Organismus, der ebenfalls der Evolution unterworfen ist und dessen einzelne Zellen (soziale Klassen und Rassen) krank und gesund sein können, fit (geeignet) oder nicht fit (ungeeignet).

Da schwache Gruppen störende Hindernisse sind, von denen sogar Ansteckungsgefahr ausgeht, müssen sie mittels natürlicher Selektion so schnell wie möglich eliminiert werden. Die sozialdarwinistische Praxis fordert: Wir müssen die Fortpflanzung der Stärksten fördern, und umgekehrt, die der Minderwertigen so weit wie möglich einschränken.

Bei den Sozialdarwinisten stiessen selbst Arbeitshäuser auf Widerstand. Weg damit! Ein sozialer Staat ist wider der Natur.

Heutzutage haben wir vergessen, dass der Faschismus ursprünglich eine progressive Ideologie war, die sich auf den damaligen Stand der Wissenschaft berief, um eine möglichst perfekte Gesellschaft zu formen.

Inspirationsquelle für den machbaren Fortschritt war tatsächlich die Wissenschaft. Besser gesagt: eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft, deren Mantra lautet: Alles ist messbar.

Misst man die Leistung eines Bankberaters allein an den Provisionen, die der Berater für die Bank generiert, braucht man sich nicht wundern, wenn er die Kunden Produkte empfiehlt - die gar nicht im Interessen des Kunden liegen. Vertrauen ist dagegen etwas, was man nicht oder nur sehr schwer messen kann. Allerdings ist Vertrauen wohl der wesentlichste Faktor für langfristige Geschäftsbeziehungen. Ob der Kunde glücklich ist, langfristig zufrieden - kann man leider nicht messen

Unterkapitel: Wissenschaft die aufgeklärte Gesellschaft

Der Autor kritisiert den Szientismus.

Definition Szientismus


Dieser besagt dass die naturwissenschaftlichen Methoden auf so ziemlich alle Bereiche, auch auf die Humanwissenschaften, angewendet werden.

Der Autor bedauert dass sich nicht der Utilitarismus durchsetzte.

Definition Utilitarismus


Der Utilitarismus ist eine Form der zweckorientierten Ethik, die in verschiedenen Varianten auftritt. Auf eine klassische Grundformel reduziert besagt er, dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn sie den aggregierten Gesamtnutzen, d. h. die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen, maximiert.

Anhänger des Utilitarismus richteteten sich ausschliesslich an den Bedürfnissen der Menschen. Ihr Ziel ist das grösstmögliche Glück für die grösstmögliche Anzahl der Menschen. Die meisten Vertreter des Utilitarismus waren Atheisten. Wenn es keinen Gott gibt, der bestimmt was Gut und was schlecht ist, muss der Mensch selber darüber nachdenken. Um belohnt oder bestraft zu werden, braucht man nicht auf das Jenseits zu warten, dies muss auf Erden geschehen, und zwar nach einem System, das auf den Erkenntnissen über das Wesen des Menschen beruht.

Dabei bestimmen drei Eigenschaften im wensentlichen unsere Identität. Dies sind Verstand, Leidenschaft und Empathie. Die Leidenschaft ist die treibende Kraft, die man am besten mit dem Verstand steuert, dem die Empathie als Maßstab dient.

Im Prinzip sind es genau die Werte, die man Kinder bei der Erzählung des Märchens vom Zauberer von OZ beibringt. Das Märchen geht von einem positiven Menschenbild aus. Das Gute steckt schon in den Menschen drin, sollte nur noch hervorgerufen werden. Paul Verhaeghe würde jetzt wahrscheinlich dies zwar bejahen, aber betonen dass dies auch für das Böse gilt.

Stattdessen haben sich Voltaire und Rousseau durchgesetzt.

Mit der Umfunktionierung der Kirchen zu Tempeln der Vernunft, hat die Ideologie der französischen Republik buchstäblich die Stelle der früheren Religionen eingenommen.

Seitdem haben sich die säkularisierten Religionen in schnellem Tempo abgelöst, jede mit dem Versprechen einer neuen, besseren Welt: Sozialismus, Kommunismus, Faschismus und die bislang letzte Variante, die liberale Demokratie, die von Francis Fukuyama zum »Ende der Geschichte ausgerufen wurde, was ein weiteres Mal auf die Idee der Leiter mit einem armseligen Anfang und einem glorreichen Ende hindeutet.

Paul Verhaeghe kritisiert den Szientismus. Es herrscht die Überzeugung, dass alles naturwissenschaftlich verstanden werden kann und muss, anhand von allgemeingültigen Thesen, bei denen der Kontext keine Rolle spielt. Wissenschaftliche Arbeit (selbstverständlich wertfrei) beruht auf tatsächlichen Messungen (alles ist messbar), wobei die Zahlen anschliessend objektiv ausgewertet werden.

Die Wissenschaft ist an der Stelle der Religion getreten. Wie wirkt sich dies aber auf unsere Identität aus? Beides Religion und Szentismus, führt beim Individuum zu einer gespaltenen Identität, da dieses sich mit der Furcht davor auseinandersetzen muss, den Erwartungen nicht zu entsprechen. Ich bin schlecht und sündenbeladen, oder aber unvernünftig und dumm. Wenn Ich mich nur genügend anstrenge, kann Ich das Gute oder das Vernünftige erreichen, und die Machtigen, die über mir stehen, werden mir dabei helfen, indem sie fortwährend kontrollieren, belohnen oder bestrafen.

Sowohl Reltigion als auch das szientistische Modell der Wissenschaft betrachten den gegenwärtigen Menschen als unvollständig; die eigentliche Vollkommenheit kann erst im Jenseits erreicht werden oder in einer fernen Zukunft, wenn die Gesellschaft wirklich auf wissenschaftlicher Basis funktioniert.

Die Unwissenden müssen fleißig studieren, und gegebenenfalls psychologisch behandelt werden, um zu den richtigen Erkenntnissen zu gelangen und schliesslich Vernunft anzunehmen.

In beiden Fällen ist Leidenschaft verboten. Im Fall der Religion lasterhaft und muss deshalb bekämpft werden. Im Fall der Wissenschaft etwas Primitives und Irrationales. Leidenschaft ist bestebfalls etwas, was man gewiss nicht ernst zu nehmen braucht. Auf Vernunft beruhende Veränderungen und dadurch angeregte neue Studien haben zur Folge, dass man als rationales Wesen ganz von selbst den richtigen Weg einschlägt.

Religion und Szentismus sind gegenüber anderen Ansichten äußerst intolerant. Beide gehen davon aus, dass Ihre jeweilige Sicht der Dinge die einzig richtige ist - die Religion weil sie von Gott kommt, der Szientismus, weil er naturwissenschaftlich bewiesen ist.

Das Ende des vergangen Jahrhunderts ist zugleich der Beginn eines radikal neuen Identitätsbegriffes. Du muss dich selbst erschaffen, du musst es schaffen.

Unterkapitel: Sei doch mal vernünftig!

Die Wissenschaft beschwört heutzutage das Bild eines Computers herauf, andem die hyperrationale Version von Mister Spock sitzt, mit oder ohne Spitzohren. Ihm fehlt jegliche Leidenschaft, denn in der offiziellen Lesart heißt es, dass Wissenschaft wertfrei und objektiv zu sein hat.

Im Altertum glaubte man aber das Wissen der Ethik untergeordnet ist. Wertfreies Wissen gibt es nicht, genausowenig wie eine Wissenschaft ohne Leidenschaft. Dieser Tatbestand wird aufgrund des sich ständig weiter verängenden Tunnelblicks auf das, was Wisssenschaft ausmacht, in den vergangenen Jahrzehnten immer heftiger negiert.

Nach Aristoteles existieren aber zwei Formen der Wissenschaft. Die erste Form ist nicht anwendungsbezogen und daher allgemeingültig. Zwei und zwei ist immer vier. Die zweite Form der Wissenschaft führt zu subjektiven Erkenntnissen, bei denen der Kontext von ausschlaggebender Bedeutung ist. Eines der Anwendungsgebiete ist zum Beispiel die Psychologie: In einer Kultur, die den Begriff der Persönlichkeit nicht kennt, kann man sich auch keine Persönlichkeitsstörung vorstellen.

Unterkapitel: Das machbare Individuum

Etwa aus der Jahrtausendwende wird aus dem sich selbst Erfahren ein Sich selbst Erschaffen, wobei das Wichtigste ein jugendlicher Körper ist. Ewig jung und sexy lautet die Botschaft, der dreissigste Geburtstag kommt einer Katastrophe gleich. In dieser Zeit nehmen bestimmte psychische Störungen ebenfalls dramatisch zu: Selbstverletzungen und Essstörungen, Depression und Persönlichkeitsstörungen. die beiden Erstgenannten beziehen sich auf den Körper, die beiden anderen auf die Identität.

Das Ende der Ideologien hat zur Folge, dass die traditionellen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien nicht mehr stattfinden und die vom Volk gewählten brav nach der Pfeife einer börsengesteuerten Wirtschaft tanzen.

Eine wichtige Rolle von Friedrich Merz würde in Deutschland diese These bestätigen. Der deutsche Chef Lobbyist des weltweit grössten Finanzkonzerns, direkt an der Schaltfläche der politischen Macht

Dies geht so weit, dass die Poltiker sogar bereit sind, den Staat abzuschaffen und ihre eigenen Bürger verwaist zurücklassen. There is no such thing as society ist eine der meist zitierten politischen Aussagen von Margaret Thatcher, die sie mit ihrem politischen Entscheidungen auch umgesetzt hat.

Die Demontage der Gesellschaft zerstört ganz allmählich das Gemeinschaftsgefühl.Individuen werden mehr und mehr zu Konkurrenten.

Man kommt nur voran, wenn man hart arbeitet, und wer auf der faulen Haut liegt, muss dann auch die Konsequenzen tragen.Rückschläge kann man überwinden und Zufall gibt es nicht. Wer es nicht schafft ist selbst schuld. Das Kriterium ist wirtschaftlicher Erfolg und finanzielle Macht - eine Kombination, die das neue Lebensgefühl ausdrückt.

Ist jemand reich, so hat er dies dem eigenen Charakter zu verdanken, er besitzt also eine starke Persönlichkeit.

Wenn finanzielle Macht gleichbedeudent mit moralischer Macht ist, hat dies den Effekt, dass wir nun die Banker und die Industriekapitäne fragen, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen soll. Und umgekehrt, wer scheitert, hat sich das ebenfalls selbst zuzuschreiben; er ist demnach eine schwache Persönlichkeit und genug auch ein Profiteur, der das Normen- und Wertesystem missbraucht. Abschaum sind solche Individuen, zu faul oder zu dumm, um ihre Situation zu ändern.

Vor nicht allzulange Zeit (das Buch kam 2013 heraus) bestimmte ein Medienmogul wie Murdoch, wer Premierminister Grossbritanniens wird, genau wie die Finanzlobby die Präsidentschaftskandidaten der Vereinigten Staaten dominiert.

Die neueste Form des Sozialdarwinismus heisst Neoliberalismus, und anstelle der Natur lässt man nun vor allem den Markt gewähren.