Titelbild des Buchs Paul Verhaeghe
Und Ich?
Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft

Kapitel Ethik

Es wird die Entwicklung der Ethik für die westlichen Industriestaaten beschrieben. Dabei teilt er dies in drei Phasen ein. Das Altertum, das Christentum bis in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Dann hat die Wissenschaft die Religion ersetzt, aber das wird im nächsten Kapitel behandelt.

Im Altertum hatte man Ethik und Identität des Menschen noch nicht getrennt. Es galt derjenige als Vorbild, der am meisten für die Gemeinschaft beigetragen hat. Das Gute für das Individuum und das Gute für die Gemeinschaft wurde nicht gegeneinander ausgespielt und man sah den Menschen im Einklang mit der Natur.

Paul Verhaeghe kritisiert stark die Entwicklung im Christentum. Die Ethik war nicht mehr Bestandteil der Identität des Menschen, sondern wurde von Gott vorgegeben. Es gab eine klare Hierarchie. Ganz oben ist Gott, danach der Mann und erst danach kam die Frau. Das Christentum geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich schlecht ist (Stichwort Erbsünde), und umerzogen werden muss. Die Belohnung gibt es erst im Jenseits. Die Natur und der Mensch wird getrennt gesehen. Die Natur ist unveränderbar und die Aufgabe des Menschen ist es diese zu bestellen.

Anfangs war Wissenschaft streng verboten. Ab dem Mittelalter und mit dem Aufkommen des Protestantismus wurde Wissenschaft und Geschäfte durchaus gefördert, solange sie nicht an dem Grundwerten der Religion rüttelt. Es entstand der Calvinismus, indem persönlicher Reichtum als ein Zeichen für Gottesfürchtigkeit galt, und Armut als eine weltliche Bestrafung für gottloses Verhalten angesehen wurde.

Für den Autor gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Identität und Ethik bzw. Moral. Die Ethik sagt uns welches Verhalten Gut und Böse ist. Der Autor sieht diese Regeln, nach denen der Mensch entscheidet was gut und was Böse ist, als fester Bestandteil seiner Indentität. Paul Verhaeghe hält es für falsch dass Normen und Werte als Aussenwelt betrachtet wird. Natürlich werden Normen und Werte von aussen an uns herangetragen, aber i.a. übernehmen wir diese Werte und sie sind fester Bestandteil unserer Identität.

Der Autor beklagt dass der Mangel, bzw. der Verlust an Werten häufig als Ursache für Fehlentwicklungen angenommen wird. Und die Antwort ist in den Medien fast immer dieselbe. Mehr Kirche, härtere Strafen und alles wird besser.Der Vater gehört Pfeife rauchend an den Kamin, die Mutter an den Herd, die Kinder zeitig ins Bett. Das Ganze ergänzt durch eine möglichst flächendeckende Videoüberwachung.

Der Autor sieht dabei 2 grundsätzlich verschiedene Ansichten. Die erste hält den Menschen grundsätzlich für gut, und die Aufgabe der Gesellschaft ist es dafür zu sorgen dass diese Wesensart voll zur Blüte kommt. Laut Verhoege gehört die Ethik des Altertums dazu.

Um die Verbindung zu meinen bisherigen Vortrag über das Buch von Maja Göpel aufzunehmen, so scheint der buddhistische Ansatz dieser Philosophie zu folgen. Frau Göpel hatte in ihrem Buch den buddhistischen Arbeitsbegriff gelobt. Arbeit ist all das was den Menschen hilft ihre Fähigkeiten zu entwickeln.

Die zweite Ansicht hält den Menschen grundsätzlich für schlecht. Und dies führt dazu, dass der Mensch überwacht werden muss. Paul Verhaeghe zählt die Ethik des Christentums dazu.

Unterkapitel: Ehik der Antike - Ein guter Charakter hat Mores

Im Altertum wurde Identität, Normen und Werte als ein Ganzes betrachtet.

Für den Menschen besteht das Ziel darin, dass er und seine Familie so glücklich wie möglich werden und dass er sich zu einem vortrefflichen Mitglied der Gemeinschaft entwickelt.

Eine solche Selbstverwirklichung innerhalb einer Gemeinschaft beinhaltet die Entwicklung bestimmter Tugenden, die in jedem von uns angelegt sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit.

Der vollkommenste Mensch ist derjenige mit der größten (Selbst)Erkenntnis, und infolgedessen ist er am besten geeignet, die Führung zu übernehmen. Der schlimmste ethische Fehler eines Menschen ist die hybris, die Selbstüberschätzung, die den Betreffenden, aber auch – und das ist viel fataler – die Seinen und sogar die Gemeinschaft ins Verderben stürzen kann.

Heute wirkt die Idee, dass Selbstsorge und bestmögliche Selbstverwirklichung eines Individuums zugleich auch der Gemeinschaft zugutekommen, uns befremdlich.

Unterkapitel: Christliche Moral Der Mensch ist durch und durch schlecht

Paul Verhaeghe kritisiert das Christentum stark. Das Christentum war die zweitletzte Ethik, die massgeblich Einfluss auf uns hatte und zwar weit über das Mittelalter hinweg heraus. Die letzte Ethik, die das Christentum ersetzte, ist unser Wirtschaftssystem und der Neoliberalismus. Um es hinweg zu nehmen, so sieht Paul Verhoeghe keine Verbesserung darin.

Im Christentum ist der Mensch einer höheren Autorität außerhalb seiner selbst unterworfen, nämlich dem einzigen und wahren Gott, dessen Gebote zu befolgen sind, sonst droht die Verdammnis.

Der christlichen Lehre zuffolge trägt jder Mensch infolge der Erbsünde das Schlechte in sich, wobei die Frau, in Gestalt Evas, als Quelle alles Bösen angesehen wird. Selbstverleugnung ist dagegen eine Notwendigkeit.

Selbst die Aneignung von Wissen ist bereits von Übel, denn damit hat das ganze Elend ja angefangen. Eva wollte in die Frucht vom Baum der Erkenntnis beißen – wohlgemerkt: der Erkenntnis von Gut und Böse. Genau deshalb wurden sie und Adam aus dem Paradies vertrieben. Nach Erkenntnis zu streben ist demzufolge anmaßend.

Alles Gute liegt bei Gott, der über allem thront.

Unterkapitel: Gottes freidenkende Händler

Gott hat die Natur als unveränderliches Faktum erschaffen – Schluss, aus, Ende.

Der Mensch musste sich seinen Platz im Himmel verdienen. Die Bibel war in dieser Beziehung recht deutlich:Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.

Seit dem späten Mittelalter glückte das so gut, dass eine neue kapitalkräftige Klasse entstand und die statische Ständegesellschaft (Klerus, Adel, Bauern) durchbrochen wurde. Es entwickelte sich eine städtische Kultur mit neuen Klassen und natürlich auch neuen Identitäten (Handwerksleute, Bankiers, Händler). In diesem Klima konnten nun auch die Wissenschaften gedeihen. Zum ersten Mal durften Forscher relativ ungehindert denken und experimentieren.

Mit dem Protestantismus kommt es zu einer Verschiebung hin zum religiösen Individualismus, der sich keiner weltlichen Autorität beugen will. Das rüttelt jedoch nicht an den strengen Moralvorstellungen, im Gegenteil. Ein Priester mag bestechlich sein, Gott aber sieht alles, und Ihm entkommt man nicht. Das Ziel ist daher mehr denn je, ein tugendhaftes Leben unter dem alles sehenden Blick eines strengen Gottes zu führen.

Armut und Misserfolg beruhen nicht auf Pech und Zufall, sondern sind Anzeichen eines religiösen und moralischen Defizits, auf das man füglich mit missbilligendem Schweigen reagiert. Umgekehrt zeugen Erfolg und Reichtum von Gottes Segen für die Bemühungen des Einzelnen. Die Kombination von Religion und Ökonomie sorgte für Sparsamkeit und Fleiß

Solange die noch junge Wissenschaft nicht allzu sehr an der Religion rüttelte, herrschte eitel Sonnenschein. Ja mehr noch, es bestanden große Ähnlichkeiten. Die Calvinisten richteten sich unmittelbar an Gott, die Wissenschaftler erforschten direkt die Natur. Experimente und mathematische Beweisführungen wiesen den Weg innerhalb eines Denkens, das einzig die Vernunft als Kriterium anerkannte.

Folgende Dokumentation zeigt den Einfluss von Protestantismus und Calvinismus in der Schweizer Wirtschaft

Die Selbstdisziplin, die wir bei den Calvinisten und ihren Wissenschaftlern antreffen, führte merkwürdigerweise dazu, dass der menschliche Faktor sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Religion verschwand.

Seit dieser Zeit besitzt der Begriff des ethischen Handelns den uns noch immer ziemlich bekannt vorkommenden Beigeschmack von Selbstüberwindung. Wir wollen alle nur das Gute, aber das Fleisch ist schwach. Also müssen wir dem Fleisch, und damit uns selbst widerstehen. Je öfter und je unnachgiebiger wir dies tun, desto sittlich hochstehender ist unsere Moral; Selbst-Überwindung, die kaum Anstrengung kostet, zählt nicht. Es muss wehtun.

Unterkapitel: Zerissenheit, Selbstverleugnung und Transendenz

Das Christentum sieht Ethik als Teil einer Beziehung zwischen dem Menschen und etwas an, das ihn überragt

Jeder Sterbliche lebt in ständiger Angst und muss sich unablässigen Gewissensprüfungen unterziehen. Das führt zu innerer Zerrissenheit, zu einem niemals endenden Kampf des Menschen gegen sich selbst, oftmals gefolgt von Buße und Strafe, die meist dem Körper angetan wird.

Anstrengungen werden nicht im Interesse der Gemeinschaft unternommen, da der Gläubige nur Gott verpflichtet ist.

Wenn der Mensch von Natur aus schlecht ist, muss die Erziehung diese Schlechtigkeit aus ihm herausprügeln. Kein Wunder, dass wir Ethik und Identität als zwei voneinander getrennte Dinge erleben – wenn man da die Frage nach dem Wesen des Menschen stellt, fällt die Antwort eher pessimistisch aus.

Als höchstes Wesen thront Gott im Himmel, unter Ihm schweben die Engel, und auf Erden ist der Mann das Element Seiner Schöpfung, das Ihm am nächsten steht. Demnach steht der Mann über den anderen Geschöpfen, allen voran über der Frau.

Mir fällt auf dass die Kritik von Verhoeghe am Christentum genau das ist, was viele dem Islam vorwerfen.

Mehr noch: Er steht über und damit außerhalb der Natur; allein das Geistige zählt, die Seele. Darin besteht die Transzendenz, die Überschreitung, von der bereits die Rede war. Zweitausend Jahre Christentum haben diese Überzeugung so stark gefestigt, dass wir mit Begriffen wie Immanenz nichts mehr anfangen können, uns nicht mehr als Teil der Natur begreifen.

Eine transzendente Religion wird von den Gläubigen als Freibrief dafür betrachtet, die Natur nach Gutdünken auszubeuten: Man steht über ihr oder außerhalb von ihr, Tiere haben keine Seele (in der späteren Wissenschaft nennt man sie nicht vernunftbegabte Wesen). Tote Materie wie Erde, Luft und Wasser hat keinerlei Bedeutung. Eine immanente Religion dagegen sieht sowohl das Göttliche als auch das Menschliche nicht als etwas über, sondern in den Dingen Befindliches an, als Teil des großen Ganzen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor die Religion ihre moralische Macht, und die Wissenschaft übernahm das Kommando.